USA Mein armes Amerika
Die Vereinigten Staaten waren immer der Sehnsuchtsort unserer Autorin. Bis sie im vorigen Winter hingezogen ist.
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Von: Jana Simon
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Datum: 26.10.2011 - 14:07 Uhr
© Frank Rothe
Das erste, was auffällt an Los Angeles, ist seine Schäbigkeit: Die winzigen, windschiefen Häuser sehen aus wie Datschen, die Farbe der Reklametafeln ist verblichen, Stromkabel hängen wie Urwaldlianen über den Dächern, auf den Straßen zeichnen Risse Muster in den Asphalt. Die Schlaglöcher auf dem Wilshire Boulevard sind so tief, dass man bei der Fahrt ständig Angst vor einem Achsenbruch hat. Es wirkt, als treibe das große, lange angekündigte Erdbeben seit Jahren sein Spiel mit der Stadt und sende mit kleinen Stößen Botschaften, die Furchen in Häusern und Straßen hinterlassen. Der brüchige Untergrund ist ein Sinnbild für die momentane Stimmung in dieser Stadt, in diesem Land.
Los Angeles ist ein Ort, von dem jeder eine Vorstellung hat, und immer ist es eine angenehme. Wir haben L.A. in Hunderten Filmen gesehen. Surfer, Skater, Schauspieler – wir glauben die kalifornische Lebenskultur gut zu kennen. Unser Bild von L.A. ist von Hollywood geprägt: Sonne, Stars, Schönheit. Die westliche Welt hat L.A. als Ziel ihrer Sehnsüchte auserwählt. Die Stadt der Hoffnung, die Ruhm und Unsterblichkeit verleihen kann. Vielleicht ist es die amerikanischste aller Städte, weil hier der Amerikanische Traum am intensivsten erstrebt wird. Und jeder hat das Gefühl, er kann mitreden, wenn es um L.A. geht, auch wenn er nie dort gewesen ist. Los Angeles ist die bekannte Unbekannte. Auch ich habe diese Vorstellungen von Luxus und Glamour verinnerlicht und bin mit meinem Mann und meiner Tochter gekommen, um sieben Monate in L.A., in den USA, zu leben, zu schreiben, zu arbeiten.
Am ersten Tag in L.A. regnet es, und zwar so heftig, dass Bäche den Hügel vor unserer Wohnung in Silver Lake hinunterlaufen. Bäume kippen um, Häuser rutschen von den Bergen. Es ist die erste Ahnung, was die Natur hier vermag, eine Demonstration ihrer Macht. Unsere Nachbarn könnten das Ergebnis eines Castings für eine TV-Serie sein: ein junger Schauspieler aus Italien, der auf seinen Durchbruch wartet und seine Brusthaare abrasiert hat, ein Schwarzer, der in Vietnam gekämpft hat, ein älterer Herr, den die anderen seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Er sei sehr schüchtern, heißt es. Die einzigen Spuren seiner Existenz sind die Pflanzen auf der Terrasse, die er wahrscheinlich nachts pflegt.
Unten am Haus hängt ein Schild, das anzeigt, dass wir auf einer Chemiehalde leben, für eventuelle gesundheitliche Schäden, die das verursachen könnte, übernimmt der Vermieter keine Haftung. Unsere Nachbarn scheint das nicht zu stören. Wer in einer Stadt lebt, die jeden Tag vernichtet werden könnte durch Erdbeben, Feuersbrunst oder Dürre, die eigene Vergänglichkeit stets vor Augen, schenkt solchen Nebensachen vielleicht keine Beachtung. Noch ist es nur ein vages Gefühl, in den nächsten Monaten wird es zur Gewissheit: In Los Angeles geht es um den Augenblick. Vergangenheit und Zukunft sind Kategorien, um die sich andere sorgen sollen.
Unser Viertel Silver Lake ist eine Mischung aus den Berliner Bezirken Prenzlauer Berg und Kreuzberg, aus Alternativem und schon Etabliertem. In jedem Häuschen sitzt einer, der ein Drehbuch schreibt oder es noch vorhat. Es sind übernächtigte, schwarz gekleidete Gestalten, Leggings sind in Mode für Männer und Frauen. Hier sehe ich auch das erste Mal die Armee der homeless, der Obdachlosen, die Herren der Straßen von L.A. Fortwährend in Bewegung, schieben sie ihre Einkaufswagen die Hügel hinauf und hinunter. Sie hoffen, dass wir den Eingang zur Garage offen lassen, damit sie unsere Mülltonnen nach Brauchbarem durchforsten können.
Warum sind wir hier? Herr Schindler ist schuld, mein Geografielehrer an der Dr. Richard Sorge-Schule im Ost-Berlin der achtziger Jahre. In der neunten Klasse nahmen wir die USA durch, wir sahen Karten an, auf denen Bodenschätze verzeichnet waren, und dann zeigte Herr Schindler uns Dias von New York. Ich konnte meinen Blick nicht von den Hochhäusern lösen. Ich weiß nicht, ob Herr Schindler vorhatte, uns abzuschrecken und uns Wolkenkratzer als krasse Symbole des Imperialismus vorzuführen. Ich glaube eher, er empfand ähnlich wie ich. Mir stiegen Tränen in die Augen, mein Magen fühlte sich hohl an, der Tag war gelaufen. Ich hatte mich in den Klassenfeind verliebt.
Leider wurde die Liebe erst einmal nicht erhört. New York und die USA lagen auf der falschen Seite der Welt, in dem Teil, der für mich verboten war, in den ich vielleicht als Rentnerin reisen könnte. Und ich wurde aus der Ferne eine naive und völlig ahnungslose Verehrerin der amerikanischen Kultur: der Sesamstraße, von Filmen wie Beat Street und Fame, Büchern wie Franny und Zooey und Tom Sawyer, von Madonna und Michael Jackson. Das Land erschien mir locker, entspannt, cool. Das Gegenteil von meinem Alltag.
Meine erste große Reise nach dem Mauerfall machte ich 1991 nach New York. Ich war gerade 18. Meine Mutter war nicht begeistert, und ich durfte noch nicht einmal legal Alkohol trinken. Ich wohnte allein auf der Upper West Side in einer Wohnung von Freunden und ging, auch allein, auf ein Konzert im Central Park. New York war der Inbegriff der neuen Welt, der neuen Freiheit, meines neuen Lebens. Ich war im Rausch.
Zwei Jahre darauf fuhr ich mit meinem späteren Mann in einem verrosteten Mitsubishi Colt einmal durch das ganze Land. An der Ostküste war es schwierig, etwas anderes als Hamburger zu bestellen, in Texas lagen Ölklumpen am Strand, in Santa Cruz erlebten wir in unserem Motel eine Schießerei. Es gab Armut, krasse soziale Unterschiede, Kriminalität, aber auch einen unglaublichen Optimismus, eine arglose Zukunftsgläubigkeit. Nie werde ich vergessen, wie wir bei den Eltern einer Freundin in St. Pauls, North Carolina, auf dem Fußboden saßen, im Hintergrund ratterte der Kühlschrank. Der Vater unserer Freundin präsentierte uns die Eiswürfel, die das Gerät fabrizierte, und zeigte uns glitzernde Fischköder aus Plastik, die er gerade gekauft hatte. Das Bild ist in meinem Gedächtnis eingefroren: Eine zufriedene Mittelschicht genießt den Konsum. Auch wenn ich nicht alles schön oder sinnvoll fand, war ich beeindruckt von der Fülle des Warenangebots, vom Wohlstand. Ein Land, das blüht, dachte ich.
Wir waren damals auch in Los Angeles. Wir wohnten in Strandnähe, die Architektur begeisterte mich, ein Haus, das wie ein Fernglas aussah, blieb mir besonders in Erinnerung. Alles erschien so neu, so modern. In mein Tagebuch schrieb ich: »In keiner Stadt fühle ich mich so am Leben wie hier.«
Das ist fast zwanzig Jahre her. Viel ist geschehen seitdem. Ich war immer wieder in den USA. Der Traum, eine Weile dort zu leben, hat überdauert. Es ist noch immer das westlichste Land der westlichen Welt. Ihr Zentrum. Weiter konnte ich mich nicht vom alten Ost-Berlin entfernen. Was ist aus meinem Traum geworden?
Nach einer Woche in L.A. suchen wir eine neue Wohnung – unsere ist zu klein, zu verdreckt, nichts funktioniert. Unmöglich, ein Apartment zu finden, dessen Möbel nicht aussehen wie vom Sperrmüll. Los Angeles ist eine Stadt der Zugezogenen. Jeder ist irgendwann einmal von irgendwo hierher gekommen, meist auf der Flucht vor irgendetwas: der Familie, der Geliebten, dem Gesetz, der Hoffnungslosigkeit. Das gilt für ganz Amerika, aber L.A. ist die Hauptstadt der Wurzellosen. Wer es nicht schafft, zieht weiter. Mir wird klar: Wohnungen, Häuser oder Möbel, die einem nicht gehören, werden mit Verachtung behandelt. Man pflegt nur das, was man besitzt. Alles andere ist austauschbar, wertlos. L.A. ist die Stadt im Transit. Nichts ist für die Ewigkeit geplant: keines der hölzernen Häuschen, kein Job, keine Beziehung.
Wir finden eine Wohnung in Downtown, unmöbliert. Keiner zieht hierher. Freunde, die wir noch von früher kennen, sehen uns verwundert an: »Da wollt ihr hin?« Aber alle kommen uns besuchen, sie sind neugierig.
Als ich 1993 zum ersten Mal in L.A. war, kam ich nach Downtown auf der Suche nach einem Zentrum. Damals waren die Straßen entvölkert, viele Häuser und Läden waren verwaist, ich war die einzige Weiße. Downtown wurde vom Crack beherrscht, war der Droge vollkommen erlegen.
Seit ein paar Jahren läuft das Projekt der Wiederbelebung der Innenstadt. Die Wohnhäuser, die alten Bankgebäude wurden renoviert und in Lofts umgewandelt. Restaurants, Bars und Clubs machen auf. Downtown erscheint als the place to be. Jedenfalls auf den ersten, flüchtigen Blick. Jeden Tag eröffnet ein neues Café, man kann riesige ehemalige Tresorräume mieten. Aber auch hier steht viel leer, die Finanz- und Immobilienkrise hat sich bis ins Mark der Stadt gefressen und den schönen Plänen erst einmal ein Ende bereitet. Der Broadway, die einstige Prachtstraße, zieht sich wie eine erschlagene Schlange durch Downtown, bunt und billig, der alte Glanz erloschen. In die grandiosen Kinos aus der Stummfilmzeit sind mexikanische Ramschläden eingezogen und Kirchen, die Teufelsaustreibungen anbieten.
Wir mieten eine Wohnung im neunten Stock der ehemaligen Bank of America. Am Einzugstag wundere ich mich über eine komplette Wohnungseinrichtung, die im Müllraum steht. In den nächsten Monaten erlebe ich oft, wie meine Nachbarn ihre Möbel heruntertragen. Ich nenne es: Auszug total. Wenn einer geht, wirft er einfach alles weg. To start all over again, um irgendwo anders neu anzufangen. Die zurückgelassenen Sofas, Tische und Betten sehen aus wie entsorgte Leben. Was hinter einem liegt, wird vergessen, aussortiert, ausgelöscht. Die Respektlosigkeit vor der eigenen Vergangenheit, dem eigenen Leben, lässt mich frösteln.
Andrea, unsere Verwalterin, fragt immer wieder nach unserer credit history. Wir haben Kontoauszüge, Arbeitsverträge und Gehaltszahlungen vorgelegt, aber wir haben keine Schulden und sind deshalb aus amerikanischer Sicht nicht vertrauenswürdig. Nur diejenigen, die beweisen können, dass sie ihre Schulden regelmäßig abbezahlen, sind gute Mieter. Wir sind schlimmer als schlechte Schuldner. Wir sind nichts, ohne Kredit, unbeschriebene Blätter. Also müssen wir 100 Dollar mehr Miete im Monat zahlen und die höchstmögliche Kaution hinterlegen. Es ist nicht möglich, die Miete zu überweisen. Bar können wir sie aber auch nicht bezahlen, Andrea darf kein Bargeld annehmen. Also müssen wir jeden Monat eine Woche vor dem Stichtag beginnen, Geld aus dem Automaten zu ziehen, bis wir die Summe beisammenhaben, um das Geld dann im nächstgelegenen liquor store in einen money order umzutauschen, eine Art Scheck, den wir Andrea schließlich in einem Umschlag überreichen. Ein ähnliches Problem gibt es bei der Telefon- und der Internetrechnung und den Kindergartengebühren meiner Tochter. Die Energierechnung muss ich alle zwei Monate leibhaftig im Gas and Power Building in der Hope Street begleichen. Dort warte ich mit vielen Latinos in einer Reihe und zahle bar. Ich komme mir vor wie in einem längst vergangenen Jahrhundert. Das viel beschriebene US-Dienstleistungsparadies kann ich nicht finden, im Gegenteil, alles dauert unheimlich lange und ist erstaunlich kompliziert.
Ich erinnere mich an die Begeisterung bei meinen ersten USA-Reisen, damals erschienen mir die Vereinigten Staaten als wohlhabend und fortschrittlich, uns Europäern in fast allen Bereichen voraus. Nun erlebe ich ein Bankensystem, das auf umständlichem Zahlungsverkehr durch Schecks aufgebaut ist. Auf denen ich, wenn ich sie einlösen will, meine Fingerabdrücke hinterlassen muss, nachdem ich schon zwei verschiedene Identitätsnachweise vorgezeigt habe. Ich sehe ein System, das einen dazu zwingt, Schulden zu machen, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft behandelt zu werden. Ich sehe im Haus gegenüber unserer Wohnung Mexikaner von morgens um sieben bis abends um zehn bügeln und nähen. Ich sehe viele Läden mit Schildern im Fenster, auf denen steht: »Wir akzeptieren auch Lebensmittelmarken.« Und bei stärkerem Regen fällt der Strom aus. Vieles erinnert eher an ein Dritte-Welt-Land als an den mächtigsten Staat der Erde.
Wenn ich hinter unserem Haus zum Parkplatz gehe, kann ich kaum atmen, so überwältigend ist der Gestank, die Hunde unserer Nachbarn und die Obdachlosen nutzen die Gasse als Toilette. Ich kann Menschen dabei beobachten, wie sie auf die Straße kacken, halb nackt von Sinnen durch die Gegend tanzen und in verrosteten Rollstühlen umherfahren. Nachts dringen die irren Stimmen bis in den neunten Stock, einmal ruft jemand eine Stunde lang immer wieder: »God, help me!« Dazu kommen die Sirenen und das Rattern der Helikopter. Das menschliche Elend zu sehen trifft mich jeden Tag wie ein Schlag. Meine Tochter nennt jeden älteren Herrn nun: »armer alter Mann«.
Zwei Blocks von unserem Haus entfernt beginnt homeless country, das Land der Obdachlosen. Hunderte, Tausende Menschen in allen Stadien des Verfalls leben auf der Straße in Zelten. Sie sind krank, verrückt, auf Drogen oder anderweitig nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen. Als wir einmal morgens durch das Viertel fahren, können wir beobachten, wie sich eine Stadt buchstäblich aus dem Asphalt erhebt. Manchmal liegen Menschen auch auf dem Bürgersteig, und es ist nicht klar, ob sie überhaupt noch leben. Aber niemand wählt 911.
Ich war oft in den USA und in vielen armen Ländern dieser Erde. Diesmal ist es anders, existenzieller. Immer wenn ich amerikanischen Bekannten erzähle, wie geschockt ich von der Armut in einem der reichsten Länder der Welt bin, in dem es als fast selbstverständlich gilt, dass Familien zwei riesige Autos zu fahren, schauen sie mich an, als erzählte ich etwas Unanständiges. Das Thema ist unangenehm, nicht Small-Talk-geeignet. Oft antworten sie, es liege an unserem Wohnort Downtown. Anderswo würden wir die Obdachlosen nicht so wahrnehmen. Aber das stimmt nicht, sie sind überall, selbst in Beverly Hills und am Strand. Freunde behaupten, dass viele Obdachlose auf der Straße leben wollten, es ihre eigene Entscheidung sei. Für mich klingt das wie ein Angriff auf meine Intelligenz. Zu Beginn habe ich auch die Plakate von Feeding America, der größten nationalen Organisation zur Bekämpfung des Hungers, für eine Kunstaktion oder die Vorankündigung einer historischen Ausstellung gehalten. Bis mir klar wurde: Das Zwanziger-Jahre-Design soll auf ein sehr gegenwärtiges Problem aufmerksam machen: Jeder sechste Amerikaner leidet tatsächlich Hunger.
Im Januar fahre ich nach Tucson in Arizona, um über das Attentat auf die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords zu berichten. Vieles in Tucson erinnert mich an St. Pauls damals in North Carolina, eine Stadt der Mittelschicht. Nur dass mir meine Gesprächspartner nicht mehr stolz ihre Fischköder präsentieren, sondern darüber reden, was sie alles verloren haben, wie schlecht es ihnen und dem Land geht und wie schlimm es noch werden wird. Schuld sind in ihren Augen die anderen: die Immigranten, die sozial Schwachen, der politische Gegner, die Regierung.
Einer der Gründer der Tucsoner Tea Party hat drei kleine Kinder, die vielen Häuser in Zwangsvollstreckung in seiner Nachbarschaft machen ihm Angst. Die Regierung soll sparen, Sozialleistungen kürzen und sich ansonsten aus allem raushalten, sagt er. Demokraten hält er für verrückt. Sein demokratischer Gegenspieler macht die Tea-Party-Anhänger für das Attentat verantwortlich, für ihn sind sie gefährliche Waffenfanatiker, Sozialdarwinisten. Beide Seiten sind unversöhnlich. Nur vor der Zukunft fürchten sie sich gemeinsam.
Je länger ich in den Vereinigten Staaten, in Los Angeles, bin, desto mehr bekomme ich das Gefühl, dass eine Gemeinschaft, wie ich sie kenne, hier nicht mehr existiert. Die amerikanische Idee basierte immer auf der Freiheit des Einzelnen, nicht auf Gleichheit, nicht auf Solidarität. Das funktioniert, solange es dem Land gut geht. Wenn es in eine Krise gerät, wie jetzt, pervertiert dieses Freiheitsprinzip. Das soziale Gewissen wird ausgelagert, privaten Stiftungen und Wohltätigkeitsvereinen überlassen.
Los Angeles ist eine Ansammlung von Individuen, die nebeneinanderher leben. Das Zentrum des Narzissmus.
Wohin fehlende Solidarität in einer Gesellschaft führt, hat der Kampf um die Schulden gezeigt. Ein paar Radikale haben ein ganzes Land als Geisel genommen. Veteranen, Arbeitslose und Nationalparks werden nicht mehr unterstützt, damit einige wenige Superreiche nicht höhere Steuern zahlen müssen.
Die Bindungslosigkeit reicht bis ins Private. Eine Bekannte erklärte mir die weitverbreitete Dating-Kultur: Man kann jahrelang mit jemandem zusammen sein, aber auch mit anderen Sex haben – bis die Frage kommt: »Are we exclusive?«, wie bei einem Vertrag. Danach ist das Geschäft abgeschlossen, meist folgt die Hochzeit. Meine Tochter wird zu Kindergeburtstagen eingeladen, die von 10 bis 12 oder von 14 bis 16 Uhr gehen, Abendessen dauern von 20 bis 22 Uhr, als seien zwei Stunden das höchsterträgliche Maß menschlicher Zusammenkunft. Länger bleiben, sich betrinken, sich verquatschen geht nicht. Alle müssen mit dem Auto nach Hause und am nächsten Morgen zu einem Casting.
Das Bild von L.A., das wir kennen, sieht anders aus. Reichtum, Glamour, endlose Partys. L.A. verkauft sich gut. Manchmal wirkt der Zauber auch auf mich. Dieses besondere Licht, das einen wie ein Scheinwerfer anstrahlt, als bewege man sich andauernd auf einer Bühne. Es gibt einem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, lullt ein, versetzt in eine Art Trance. Stunden, Tage, Jahre verlieren die Bedeutung. Es herrscht immer die gleiche Jahreszeit, ein nicht enden wollender Frühling. Und manchmal Hitze.
Orson Welles hat einmal gesagt: »Das Furchtbare an L.A. ist, man lässt sich mit 25 nieder, und wenn man wieder aufsteht, ist man 62.« Als sei man in einem Zeitloch gefangen. Niemand, den ich kenne, mag hier alt werden, und die meisten werden es dann doch. Es ist nicht leicht, wieder aus dem Scheinwerferlicht herauszutreten.
Die Bindungslosigkeit hat auch etwas Rauschhaftes. Es ist egal, ob man sich trifft oder nicht. Für nichts ist man verantwortlich, nur für sich selbst. Es ist das Gefühl der totalen Freiheit. Nur scheint es den Amerikanern dabei nicht besonders gut zu gehen. Noch nie habe ich so viele Anzeigen für Antidepressiva gesehen, als versinke eine ganze Stadt in Schwermut. Die Träume in L.A. sind intensiv – wenn sie sich nicht erfüllen, darf man kein Mitleid erwarten.
Eine deutsche Freundin, die vor zwölf Jahren nach L.A. gezogen ist, beschreibt ihr Zuhause als »Bahnstation«, ständig gingen Menschen ein und wieder aus. Mit der Zeit verlieren Freundschaften ihren Wert, man muss sich nicht kümmern, nicht mitfühlen oder sich einmal Erzähltes merken. Geburtstag feiert man nun mit Menschen, die man kurz vorher auf Partys kennengelernt hat. Im nächsten Jahr feiert man eben wieder mit anderen. Man ist sehr frei und sehr allein.
Und man ist ständig unterwegs, damit beschäftigt, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Deshalb wird das Auto auch besser gepflegt als die Wohnung. Dein Wagen ist dein Gesicht, damit präsentierst du dich der Stadt. »Los Angeles ist nichts, wenn du kein Auto hast«, schreibt Cees Nooteboom. Die Freeways sind Sehenswürdigkeiten: sechsspurig, voll und tödlich. Und sie sind seltsam still, es hupt kaum jemand. Ich habe den Eindruck, es ist nicht Disziplin, sondern Misstrauen. Wer weiß, wer im Wagen nebenan sitzt. Vielleicht fühlt er sich angegriffen und zieht eine Waffe. Die Verkehrslage bestimmt jede Verabredung, jeden Termin, dominiert den Alltag. Alle sind andauernd in Bewegung. Jeder kann jederzeit die Stadt verlassen, und es macht nichts. Die Spuren verlieren sich.
Morgens, wenn ich das Haus verlasse, grüße ich an der Tür Toni aus Puerto Rico und abends, wenn ich zurückehre, Toni aus El Salvador. Unsere doormen stammen aus Lateinamerika, verdienen schlecht und haben mindestens zwei Jobs. Nachts schlafen sie genau sechs Stunden, damit sie alles schaffen. Ihre Tage sind durchgeplant bis in die letzte Minute. Wenn ich über die Straße in die Wäscherei gehe, steht dort Elijah, ein Jude aus Iran, und wenn ich meine Tochter in den Kindergarten bringe, empfangen uns Li aus China, Rumiko aus Japan und Carmen aus Mexiko. Ein multikultureller Traum – bloß fahren sie nach der Arbeit alle zurück in ihre Viertel, nach Chinatown, Little Tokyo, Boyle und Lincoln Heights. Die Geschichte vom melting pot ist ein Märchen. Es mischt sich nichts. Jede Nation bleibt auf ihrem Gebiet.
In L.A. spielt es eine große Rolle, wo man wohnt. Der Osten ist arm und schwarz, der Westen reich und weiß. Der Wohnort entscheidet über sozialen Status und Kontakte. Downtown gilt als freaky, als noch nicht etabliert. Wer glaubt, es geschafft zu haben, wohnt auf der Westside.
Je länger ich da bin, desto häufiger frage ich mich, warum das Bild von der Glamourhochburg immer weiter reproduziert wird. In diesem Licht sieht alles schön aus. Die Sonne scheint ziemlich viel, das stimmt. Aber es gibt kaum Restaurants oder Cafés, wo man draußen sitzen kann. An dem wunderbaren breiten Sandstrand sind kaum Eisdielen oder Beachbars. L.A. ist eine Arbeitsstadt, latent genussfeindlich.
Freunde, die vor Jahren aus Deutschland ausgewandert sind, um hier als Schauspieler zu arbeiten, waren seit ihrem Umzug nie im Urlaub. Immer wenn sie losfahren wollten, kam ein Anruf, der den Durchbruch versprach. Nach L.A. geht man, um es zu schaffen. Wer hier bekannt wird, ist es in der ganzen Welt. Irgendwann vergisst man dann, warum man da ist. Es ist, als sitze eine ganze Stadt im Wartezimmer. Und im Kopf kreist nur ein Gedanke: ICH!!!
Hollywood, das Sehnsuchtsziel. Die erste Frage in vielen Gesprächen ist: »Are you in the industry?« Film ist hier eine Industrie. Meine Tochter malt ihre Bilder im Kindergarten auf den Rückseiten von Drehbuchblättern. Die Eltern sind Autoren, Kostümbildner und Schauspieler und haben nicht viel zu tun. Hollywood ist in der Krise. Die Filmplakate sind riesig, aber die Kinos sind leer. Kinobetreiber und Studiochefs haben gegenüber der L.A. Times zugegeben, dass die bisherigen Filme des Jahres nicht gut waren: Animationen, Fortsetzungen, Comicadaptionen. Vieles in 3-D. Es geht mehr um Technik als um Inhalt.
Auf der Suche nach dem Glamour mache ich mich auf den Weg nach Hollywood. Der Hollywood Boulevard empfängt mich graugesichtig, am Walk of Fame bieten Ramschläden Levi’s-Jeans an, ein paar bemitleidenswerte Gestalten haben sich als Batman und Mickey Mouse verkleidet, an ihnen donnern die Autos vorbei. Das Kodak Theatre, der Oscar-Palast, ist in Wirklichkeit ein Einkaufscenter, in dem viele Läden leer stehen. Es kommt der Augenblick, in dem ich das Gefühl habe, mich in einem einzigartigen Fake, in einer Scheinwelt zu bewegen. Eine riesige Werbe-Medien-Maschine vermarktet seit Jahren etwas, das es so nicht gibt. Die Studios sitzen bis auf eines schon längst nicht mehr in Hollywood. L.A. lebt mit dem glanzvollen Bild von einst und hat beschlossen, nicht mehr in den Spiegel zu blicken.
So wie viele seiner Bewohner: So wie Bernhard aus Österreich, der in einem kleinen WG-Zimmer wohnt und bei Starbucks arbeitet, um irgendwann die große Karriere als Schauspieler zu starten. So wie Maria, die mexikanische Kindergärtnerin von Freunden – sie lebt mit ihrer dreißigjährigen Tochter in einer winzigen Wohnung und pflegt am Wochenende zusätzlich die Durchgedrehten, die aus einem der US-Kriege zurückgekehrt sind. Und wie Arturo, der sein Leben, wie seine Großeltern und Eltern vor ihm, mit einer der 1.100 Gangs der Stadt und im Gefängnis verbracht hat und dessen bester Freund gerade in einer Bar erschossen wurde. Arturo fragt mich, ob wir in Deutschland Englisch sprächen. Und ist sehr erstaunt, als er hört, dass es eine Sprache namens Deutsch gibt. Seine Verwunderung ist noch größer, als er erfährt, dass Deutschland in Europa liegt.
Arturo und Maria waren noch nie außerhalb der USA, wie die Mehrheit der Bevölkerung. Sie haben keine Ahnung von der Welt, aber trotzdem das Gefühl eigener Größe. Über die USA sagen sie: »It’s the greatest country in the world.« Angesichts ihrer Lebensumstände wirkt dieser Satz grotesk. Als hätten sie ihn seit ihrer Kindheit immer wiederholt und würden ihn nun nicht mehr los. Für viele wäre es schlicht nicht auszuhalten, wenn sich alle ihre Anstrengungen als sinnlos erwiesen. Wenn sich herausstellte, dass der Amerikanische Traum gar nicht so traumhaft ist.
Ich könnte in ein anderes Viertel ziehen. Aber selbst wenn ich mich in den hintersten Winkel dieser Stadt verkriechen würde, blieben noch zwei Grundbedürfnisse, die nicht verschwänden: Essen und Trinken. Und beides ist ein Problem. Das Wasser aus der Leitung ist gechlort und ungenießbar.
Bei einem Interview warnt mich eine deutsche Schauspielerin vor high fructose corn syrup in Lebensmitteln. Er hat fast überall in den USA den Zucker ersetzt, weil er billiger ist. Die Schauspielerin sagt, er sei gesundheitsschädlich und mache dick. Zu Hause lese ich im Internet: Es wird vermutet, dass high fructose corn syrup Fettleibigkeit, Diabetes, Herz- und Lebererkrankungen fördert. Ich schaue in unseren Kühlschrank, und tatsächlich steht auf fast jeder Packung high fructose corn syrup, viele Zutaten sind auch genetically modified, genetisch verändert.
Meine anfängliche Sorglosigkeit schlägt um in radikale Vorsicht. Von nun an fahren wir jede Woche eine Stunde hin und eine wieder zurück zum nächstgelegenen Whole Foods Market, wo die Lebensmittel organic sind, nicht genetisch verändert, und das Doppelte kosten. Meine Tochter lernt, »schlechtes« von »gutem« Eis, »schlechtes« von »gutem« Ketchup zu unterscheiden. Vielleicht überreagiere ich, vielleicht fördert dieses Land auch einfach Extreme.
Niemand weiß bisher, ob und wie sich genetisch veränderte Lebensmittel auf unsere Gesundheit auswirken. Aber ich nehme nicht gern an Experimenten teil. Ohne Recherche kann ich praktisch nichts mehr essen und trinken. Ein apokalyptischer Zustand.
Wenn es stimmt, dass Entwicklungen aus den Vereinigten Staaten mit ein wenig Zeitverzögerung zu uns nach Europa kommen, kann man sich nur fürchten. Das ist vielleicht die größte Veränderung: Mein einstiges Traumland wirkt nicht mehr modern, uns nicht mehr voraus. Es macht den Eindruck, als befinde es sich nicht im Aufbruch, sondern am Rand des Abgrunds. Eine Gemeinschaft in Auflösung.
Als wir nach sieben Monaten USA im Sommer nach Berlin zurückkehren, wirkt die Stadt im Vergleich zu Los Angeles wie ein Ferienort – die Berliner verbringen endlose entspannte Tage draußen in Straßencafés, genießen genetisch unbedenkliches Essen und viel Wein.
Ein paar Wochen später beginnen in New York die Anti-Wall-Street-Demonstrationen. Im Fernsehen sehe ich nun Amerikaner, die in Schlafsäcken im Zuccotti-Park mitten im Börsenviertel kampieren und gegen die soziale Ungerechtigkeit protestieren. Ein Bild prägt sich mir besonders ein: An einem Zaun hängt ein Plakat, es ist ein wenig zerfleddert und vom Regen durchweicht, »Kapitalismus funktioniert nicht« steht darauf. Die Ratlosigkeit ist niederschmetternd. Ich habe schon einmal miterlebt, wie ein System untergegangen ist, nur was sollte diesmal die Alternative sein?
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Quelle: ZEITmagazin, 27.10.2011 Nr. 44
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