Exil, Gefängnis oder Grab
Wie Präsident Putins dienstbare Offiziere fast jede unabhängige Stimme ersticken.
Moskau
Nachdem Alexander Litwinenko vor acht Jahren mit Kollegen bei einer Moskauer Pressekonferenz über geplante Verbrechen des Geheimdienstes FSB berichtet hatte, gab er sich und seinen Mitstreitern eine pessimistische Prognose: »Sie werden uns wie Welpen ersticken!« Es kam noch qualvoller für den Ex-Agenten. Er starb an radioaktiver Verstrahlung.
Sein früherer Kollege Michail Trepaschkin, der auch die Moskauer Häuserexplosionen im Herbst 1999 auf eine Beteiligung des FSB untersuchte, hatte schon 2002 von einem geheimen Killerkommando gehört. Damals habe ein FSB-Agent, schreibt Trepaschkin in einem Brief aus der Strafkolonie, von einer »sehr ernsten Gruppe« berichtet, die es auf alle abgesehen habe, die mit Litwinenko und dem russischen Oligarchen und Putin-Feind im Londoner Exil, Boris Beresowskij, zu tun hätten. Trepaschkin wurde im Mai 2004 wegen Verrats von Staatsgeheimnissen und illegalen Munitionsbesitzes in einem Prozess, den amnesty international als »offenbar politisch motiviert« bezeichnet, zu vier Jahren Haft verurteilt. Russland bringt seine internen Kritiker ganz traditionell zum Schweigen: im Exil, im Gefängnis oder im Grab.
Schon nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober war die Angst eingezogen in die verbliebenen unabhängigen Redaktionen, in die Hinterhofbüros der Oppositionellen und die Wohnküchen der Menschenrechtler. In der vergangenen Woche verbreitete Politkowskajas Zeitung Nowaja Gaseta den Hilferuf, dass zwei ihrer Reporter einen Tag nach Litwinenkos Tod Morddrohungen erhalten hätten. Kaum einer spricht gern persönlich darüber. Viele wappnen sich mit Fatalismus gegen die Gefahr. »Man kann paranoid werden, wenn man immer daran denkt«, sagt eine Kollegin Politkowskajas. »Wenn sie mich töten wollen, dann werden sie es sowieso schaffen.« Politkowskajas Pflichtauffassung, der Wahrheit ans Licht zu verhelfen, erinnerte an die verblichenen Hoffnungen des russischen Aufbruchs in die Demokratie. Er fand bei den dienstbeflissenen Medienmanagern der Ära von Wladimir Putin sein Ende.
Die Todesfälle Politkowskaja und Litwinenko lenken den Verdacht auf russische Geheimdiensttäter. Im Gefolge von FSB-Oberst Putin haben die Uniformträger in Russland als Retter des Volkes nach dem Chaos unter Präsident Boris Jelzin die politische Macht übernommen. Mit dem Prinzip des Privateigentums haben sie sich durch eigenen Besitz versöhnt, jetzt beleben sie die Sowjetunion wieder in den Methoden der Staatslenkung. Die öffentliche Politik ist zur Jubelveranstaltung degradiert, während die wichtigen Entscheidungen wie zu Chruschtschows Zeiten unter dem Kremlteppich ausgekämpft werden. Die Mehrheit der Menschen verharrt in Apathie. Doch das Gefühl der Stabilität, Putins wichtigste Errungenschaft, schwindet. Das autoritäre Regime steuert auf seine größtmögliche Krise zu: die Übergabe der Macht an Putins Nachfolger in gut einem Jahr. Der Kampf der Clans fordert schon jetzt seine Opfer – mal durch Schüsse, mal durch Gift.
Seinen Espresso im Lieblingscafé an der Moskauer Fußgängerzone in Kremlnähe trinkt Wladimir Ryschkow noch immer ohne Sorge. »Kann ich euch vertrauen?«, fragt er den Mann am Ausschank lachend. »Solange wir hier sind, natürlich«, antwortet der. Ryschkow gehört zur Hand voll unabhängiger Abgeordneter im Parlament. Sein Name steht auf fast jeder der vielen Todeslisten für »Volksfeinde«, die im Internet kursieren. Geld für einen Leibwächter hat er aber nicht. So burschikos der 40-Jährige die Bedrohung am Thresen mit Humor bannt, so ernst wird er im Gespräch: »Wir Oppositionspolitiker halten jetzt ständig Kontakt per Telefon. Die Menschen haben Angst.«
Gerade hat sich Ryschkow mit einem Vertreter der Tourismusbranche getroffen. Russlands Tausende kleiner Agenturen, erzählt er, sollen mit einem neuen Gesetzentwurf aus dem Wettbewerb geworfen werden. »Dann wäre der Markt frei für die großen Agenturen«, erklärt er, nennt als Beispiel einen Firmennamen und tippt zu ihren Besitzern mit zwei Fingern dorthin, wo auf Uniformen die Schulterstücke sitzen – die allgemeine Geste für Geheimdienstler. »Es geht bei der wirtschaftlichen Machtergreifung in Russland schon längst nicht mehr nur um Öl und Gas«, sagt er beschwörend.
Ryschkow ist per schwarzer Zensurliste seit fünf Jahren aus dem Staatsfernsehen verbannt. Die letzte politische Live-Sendung wurde 2004 eingestellt, um jede unangenehme Überraschung auszuschließen. Politische Diskussionen haben die Programmmacher mit dem Ohr an der Kremlmauer zugunsten untertäniger Berichterstattung vom Putinhofe oder Talkshows über Brustvergrößerung gestrichen. Die Bevölkerung soll nicht ideologisiert, sondern ruhig gestellt werden.
Den lebendigeren Pressemarkt schalten derzeit obrigkeitshörige Wirtschaftsbosse durch strategische Aufkäufe von Verlagshäusern gleich. Als letztes freies Medium ist das Internet geblieben, das etwa jeder sechste Russe nutzt. Doch der Mail-Verkehr und alle Weblogs unterliegen bereits der Kontrolle des FSB. Eine kritische Journalistin, die einen Artikel per Mail abschickte, bekam noch vor dem Abdruck einen Anruf aus dem Kreml. »Na, kritisierst du uns schon wieder?«, lautete die zivilisierte Warnung am Telefon. Vertreter des FSB fordern von ihren ins Parlament abgeordneten Kollegen weitreichendere Vollmachten. Das Internet, stellte ein FSB-Experte entsetzt fest, könnte sonst als »Instrument zur Bildung der öffentlichen Meinung« zum Aufruf gegen die Regierung genutzt werden.
Kaum ein Journalistenmord der vergangenen Jahre wurde aufgeklärt. Wenn die Ermittler Tatverdächtige präsentieren, scheitern sie vor Gericht an der Schlampigkeit ihrer Untersuchung. Die unterschwellige Angst vor dem nächsten Auftragskiller ließ viele in Moskau von Anfang an daran glauben, dass auch dem früheren Premierminister Jegor Gajdar in Irland ein Giftanschlag gegolten hat. Es geht nicht mehr nur darum, Oppositionelle mundtot zu machen. Ihr Leiden und Tod ist zudem Schachzug in einer größeren zynischen Partie.
»Wir haben es mit einer halbkriminellen Macht und Elementen der Gangsterpolitik zu tun«, sagt der Abgeordnete Ryschkow. Sein Direktwahlkreis wurde abgeschafft, seiner Republikanischen Partei die Registrierung verweigert. »Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in gut einem Jahr entscheiden nichts mehr. Es geht vielmehr darum, vorher seine Figuren auf die richtigen Plätze zu rücken. Jeder Berühmte in Russland lebt in einer Risikozone und kann zum Instrument im undurchsichtigen Kampf um die Macht werden. Dafür trägt Putin«, resümiert Ryschkow, »die politische Verantwortung.« Die Morde, so lautet eine verbreitete Theorie, sollen Putin vom Westen entfremden. Die Gefahr einer inneren Destabilisierung könnte ihn so stark unter Druck setzen, dass er doch einer dritten Amtsperiode zustimmt. Eine andere Version in Moskau, der Hauptbörse aller Verschwörungstheorien, besagt, dass ein russischer Geschäftsmann wie Boris Beresowskij Politkowskaja aus dem Ausland umbringen ließ, um Putin zu diskreditieren. Die Geheimdienste hätten dann mit dem Mord an Litwinenko geantwortet, um ihn für immer auszuschalten, gemäß dem FSB-Lehrsatz: »Schrecklich ist nicht, was geschah, sondern was geschehen soll.« Der dem Kreml dienstbare Politikberater Gleb Pawlowskij glaubt an eine internationale Verschwörung gegen Russland. Das klingt für Leute mit klaren Feindbildern sehr stimmig.
Eine Frau mit zarter Stimme, die Soziologin und Elitenwissenschaftlerin Olga Kryschtanowskaja, forscht über jene geheimnisumwitterten Männer, die dem Mord ohne Gerichtsbeschluss das Wort reden und sich auf die Kante mancher Ehrenmedaille »Vaterland, Heldenmut, Ehre« gravieren lassen. Als im Direktorenzimmer ihres Instituts während des Gesprächs über den Aufstieg der Geheimdienstler scheppernd das Telefon klingelt, scherzt sie: »Aha, sie rufen schon an.« Aber recht lustig ist ihr nicht mehr zumute. »Nach den letzten Ereignissen läuft einem ein Schauer über die Haut«, sagt sie und verschränkt ihre Arme, als habe sie in der Zimmerecke eine haarige Spinne entdeckt.
Schon in der Sowjetunion, konstatiert Kryschtanowskaja, habe es den ständigen Zweikampf einer zivilen mit einer militärischen Partei gegeben. Die Uniformträger gewannen unter Putin die Oberhand. »Anfang der neunziger Jahre ist eine große Zahl von KGB-Offizieren in Unternehmen, Banken und Sicherheitsfirmen gewechselt«, erklärt Kryschtanowskaja. »Ihr Wert hing davon ab, ob sie ihre alten Kontakte erhalten konnten. Dieses verstreute KGB-Netz wurde von der Macht für neue Aufgaben aktiviert. In den Machtstrukturen haben zudem bis zu drei Viertel aller Vertreter Beziehungen zu den Geheimdiensten.« Viele behielten den Status des »Offiziers der tätigen Reserve«. Mehr als 35 Prozent der Vize-Minister bis ins Kulturministerium hinein gehörten seit 1998 zum Kontingent dieser berichtspflichtigen Späherreserve.
Bei 26 Prozent der untersuchten 1061 Staatsfunktionäre ist die KGB-Vergangenheit im offiziellen Lebenslauf vermerkt. Den versteckten Ex-Agenten spürt Kryschtanowskaja nach, indem sie Biografien auf auffällige Lücken und Beförderungssprünge untersucht. Ihr psychologisches Profil beschreibt die Geheimdienstler als kontaktfreudige, kommunikative Menschen, die ihre wahren Absichten verbergen. Sie kennen die Gesetze und überschreiten sie. »Geheimdienstler in aller Welt beschäftigen sich mit Aufgaben, die man als kriminell bezeichnen würde, wenn sie nicht durch den Staat Legitimation erhielten«, erklärt Kryschtanowskaja. »Spione wären Diebe und Spezialeinheiten Mörder. Da der Staat ihr einziger Schutz ist, brauchen sie einen starken Staat.« Feindbilder sind ihre Leitsterne, und Patriotismus soll alle Taten rechtfertigen. »Ich kenne keine andere soziale Gruppe, die in ihrer Ideologie und Weltwahrnehmung so homogen ist«, sagt Kryschtanowskaja.
Gegenüber der Sowjetzeit sind indes Privateigentum und die kontrollierte Marktwirtschaft in einen hohen Ideologierang aufgerückt. Die Finanzkraft der Geheimdienstler, die sich in konkurrierende Lager aufspalten, basiert auf dem Gasmonopolisten Gasprom, der Ölfirma Rosneft und der Militär- und Atomindustrie. Die Besitzstände sollen gegen unkontrollierbaren Entwicklungen gesichert werden. Im Juli nahm das Parlament ein Gesetz an, das dem Präsidenten die Verfolgung von »Terroristen« in aller Welt erlaubt.
An Exekutionstechnologie fehlt es nicht. Der frühere FSB-Agent Trepaschkin berichtet von Geheimdienstgiften, die keine Spuren im Organismus hinterlassen. Sie wirken über die Atemwege, die Haut oder die Augenschleimhäute. »Das Gift wird als Aerosol mit dem Pinsel im Auto auf das Steuerrad, die Türgriffe oder die Klimaanlage aufgetragen«, schreibt Trepaschkin. Vor viereinhalb Jahren starb der islamistische Kämpfer Chattab in Tschetschenien an einem vergifteten Brief des FSB. Im September 2004 erlag der Generaldirektor einer Personenschutzfirma, die in den neunziger Jahren auch Putin in der Petersburger Stadtverwaltung bewacht hatte, einer rätselhaften Vergiftung. Einige Experten tippten damals auf ein radioaktives Isotop.
Die Liste allein der Morde an Staatsvertretern während der vergangenen sechs Jahre wirft einen Schatten auf die Sicherheitsbilanz Putins: Neun Bürgermeister und ihre Stellvertreter, vier Gouverneure und Gouverneurskandidaten, zwei Vizegouverneure und drei regionale Verwaltungschefs kamen um. Sogar ein FSB-General starb im Kugelhagel. Dieser Herbst forderte drei Opfer unter Russlands Bankiers, darunter der Vizechef der russischen Zentralbank. Er war für die Lizenzen zuständig und hatte begonnen, den trüben Bankenmarkt Russlands zu säubern, der nach Meinung von Experten auch Korruptionsgewinne mancher FSB-Mitarbeiter weißwäscht. Die Täter und Auftraggeber der Morde werden selten gefasst.
Nur die russische Unternehmerschaft hätte derzeit die Mittel, dem autoritären Staat Widerstand zu leisten. Doch die einstigen Oligarchen überbieten sich nach der Verurteilung des Ölmilliardärs Michail Chodorkowskij in Demutsgesten, um ihr Geschäft zu retten. Die mittelständischen Unternehmer fühlen sich zwischen monopolisierten Märkten der Großunternehmen und der gierigen Staatsbürokratie in die Zange genommen.
Der 39-jährige Sergej hat sich einige hundert Kilometer von Moskau entfernt in seiner Heimatstadt einen erfolgreichen Farben- und Medikamentenhandel aufgebaut. Der Unternehmer spürt am eigenen Leib, dass »die Luft zum Atmen immer dünner« wird, und möchte nicht mit Nachnamen genannt werden. »Der neue, von Putin eingesetzte Gouverneur hat sich anfangs den Abgeordneten des Regionalparlaments als Liberaler vorgestellt, der den Wettstreit der Meinungen schätze«, erzählt Sergej. »Dann bekam die Putinsche Machtpartei Einiges Russland bei unfairen Wahlen mit Stimmenbetrug die absolute Mehrheit. Seither haben wir ein strenges Meinungsmonopol. Von Vielfalt ist keine Rede mehr.«
Sergej ist seit Jahren in der demokratischen Opposition aktiv. Er träumt davon, im nächsten Jahr für das nationale Parlament zu kandidieren. Es wird sein letzter Versuch, Russland zu verändern. »Wenn es nicht klappt, ziehe ich mich ganz aus der Politik zurück«, sagt er. Es werde sowieso besser sein, nicht mehr aufzufallen. »In zwei Jahren«, glaubt Sergej, »haben wir hier weißrussische Verhältnisse.«
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50/2006