Welt am Sonntag

Autor: Julia Smirnova| , Moskau

05.06.2011

Der unsterbliche Homo sovieticus

Die kommunistische Vergangenheit Russlands wirft lange Schatten. Eine Studie über die vergangenen 20 Jahre zeigt: Auch junge Russen trauen sich nicht, eine eigene Meinung zu haben

Der sowjetische Mensch ist misstrauisch, heuchlerisch und zynisch, sagen die Forscher

Die Gesellschaft wird noch mehrere Generationen brauchen, um sich zu erneuern

Der Tag, an dem Igor Korolkow zum ersten Mal ein Buch des russischen Schriftstellers, Dramatikers und Trägers des Nobelpreises für Literatur Alexander Solschenizyn gelesen hat, veränderte sein Leben. Es war 1985, er war 25 und hatte gerade angefangen, als Ingenieur in einem sowjetischen Betrieb zu arbeiten. Das große totalitäre System wankte bereits. "Für uns war es die Zeit von Schock und Aufruhr. Wir abonnierten Zeitschriften, die Literatur druckten, die früher verboten war. Eine ganz neue Welt öffnete sich für uns. Wir glaubten, dass mit Präsident Michail Gorbatschow ein neues schönes Leben beginnen würde." Das war die Stimmung des Aufbruchs, vielen demokratischen Revolutionen ähnlich.

So dachten auch die Soziologen. 1988 begannen Juri Lewada und seine Kollegen, die Transformation der totalitären Gesellschaft zu untersuchen. "Wir hatten damals die Illusion, es würde schnell gehen und ohne Komplikationen. Die jungen Menschen in den Großstädten waren liberal und prowestlich eingestellt. Wir dachten, dass jede neue Generation sich mehr verändern würde und wir diese Veränderungen nur registrieren müssen", erzählt heute Professor Lew Gudkow, der nach dem Tod von Juri Lewada das soziologische Institut Lewada-Zentrum leitet. Doch der Typus des sowjetischen Menschen erwies sich als sehr resistent. Inzwischen konzentrieren sich die Studien des Instituts darauf, zu untersuchen, wie der "Homo sovieticus" sich immer wieder reproduziert und selbst in die Generationen getragen wird, die nach der Ära der Sowjetunion geboren wurden und nichts von der Propaganda mitbekommen haben.

"Jedes totalitäre Regime bringt die Idee einer neuen Gesellschaft, eines neuen Menschen hervor", sagt Gudkow. Dieser Mensch werde mit den Mitteln der Propaganda und der Abschreckung geformt. Ein realer Mensch werde zwar nicht ausschließlich von der Propaganda beeinflusst, er passe sich aber an. "Viele Eigenschaften, die sich die Menschen dabei einprägen, bleiben stabil in der Gesellschaft bestehen."

Im Jahre 1991, während des letztlich gescheiterten Putschversuchs kommunistischer Funktionäre, standen viele Kollegen von Igor Korolkow Schlange vor der Partei-Kasse. Sie alle waren Mitglieder der kommunistischen Partei. "Sie hatten aber bereits zwei Jahre keine Parteigebühren mehr gezahlt und wollten jetzt alles nachzahlen", lächelt Korolkow. Die Bereitschaft, sich der Macht anzupassen, das Gefühl, vom Staat abhängig zu sein, ist für den Homo sovieticus prägend. "Dieser Mensch wurde von einer Gesellschaft geformt, die streng hierarchisch aufgebaut war. In seinem Bewusstsein hängen die Grenzen des Möglichen nicht von den individuellen Talenten und Qualifikationen, sondern nur vom Platz in der Hierarchie ab. Deswegen entstehen keine universellen Werte und ethischen Normen", so Gudkow.

Der sowjetische Mensch sei misstrauisch und deshalb heuchlerisch und zynisch. Gleichzeitig habe er unendliche Ressourcen an Geduld und Anpassungsfähigkeit. Seine ganze Lebensstrategie bestehe darin, sich dem Druck von außen anzupassen und zu überleben. Vertrauen habe er nur der Familie und engen Freunden gegenüber. Komplexeren sozialen Bindungen begegne er mit Misstrauen, was die Entstehung politischer Parteien erschwere. "Der im totalitären System erzogene Mensch ist bereit, Zustimmung zur Macht zu demonstrieren, wenngleich er auch nicht an sie glaubt. Er hat keinen Grund für Stolz. Und dieses Gefühl der eigenen Schwäche drückt sich in Aggression aus - dem Westen, oder anderen Gruppen gegenüber, die immer noch Idealismus zeigen oder an Werte glauben", meint der Soziologe Gudkow.

Dieser Minderwertigkeitskomplex wird von den Machthabenden ausgenutzt: Seit Jahren wird im Fernsehen und im Bildungssystem eine bedingungslose Verehrung der heldenhaften Vergangenheit gezeigt, die im Kult um den Sieg der Sowjetunion über den Nationalsozialismus gipfelt. Für die meisten Russen gilt das als größtes Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Natürlich handele es sich beim Homo sovieticus nur um ein soziologisches Modell, erklärt Gudkow. Doch Studien belegen, dass auch die Generation, die Ende der 90er-Jahre geboren wurde, ganz ähnliche Eigenschaften aufweist.

Olga Schilowa weiß das genau. Sie unterrichtet russische Literatur in einer privaten Schule in Moskau. Die 16-Jährigen in ihren Klassen sind Mitte der 90er-Jahre geboren - da war die Sowjetunion bereits Geschichte. Es sind zumeist Kinder wohlhabender Eltern, stolz erzählen sie, dass ihre Väter und Mütter bei Gazprom oder als Beamte im öffentlichen Dienst arbeiten. Einige wollen den gleichen Weg gehen und geben ganz offen zu, dass sie sich auch nicht scheuen würden, Schmiergeld anzunehmen. "Mich frustriert, dass sie sich keine eigene Meinung bilden können und nicht zu ihren eigenen Gedanken stehen. Der erste Link, den sie im Internet anklicken, ist für sie die Wahrheit", sagt Olga Schilowa. Ihr Ziel ist es, die Teenager zum selbstständigen Denken anzuleiten. Sie selbst interessiert sich jedoch nicht für Politik und führt als Grund das Mantra vieler Russen an: "Weil man doch nichts ändern kann." Sie hat es immerhin versucht. "Einmal habe ich die Überprüfung der Imbissbude beantragt, wo sich bereits zwei meiner Kollegen eine Lebensmittelvergiftung geholt haben. Ich musste Tausende Dokumente sammeln und habe es schließlich sein lassen. Es wird doch so sein: Die Prüfer kommen, nehmen Schmiergeld, und die Bude arbeitet weiter. Das ist doch alles Teil der Politik." In Russland könne man keiner Partei und keinem Politiker trauen - die meisten seien doch Kommunisten gewesen. Die Nachrichten verfolgt sie selten, und wenn, dann im Internet. Doch bei den Quellen scheint sie fast genauso sorglos zu sein wie ihre Schüler.

Aussagen wie "Diebe wie (der inhaftierte ehemalige Öl-Magnat Michail) Chodorkowski müssen im Gefängnis sitzen" oder "Man soll hart gegen die Kriminellen vorgehen, warum können sie nicht wie früher auf Baustellen arbeiten" lassen die Propaganda der unmittelbaren Post-Sowjetära leicht erkennen. Dabei sind die Veränderungen in der sowjetischen Gesellschaft unterschiedlich schnell verlaufen. In den Großstädten ist die Marktwirtschaft präsenter und die Abhängigkeit von der Macht schwächer, deshalb ändert sich auch das politische Bewusstsein schneller. In den ländlichen Gebieten sind die Ressentiments gegen die Regierung schwächer ausgeprägt. Zwei Drittel der Bevölkerung Russlands lebt in Dörfern und kleinen Städten. Genau hier, in dieser Zone der Depression und Armut, wird der sowjetische Mensch reproduziert. Die alte Infrastruktur fällt auf dem Land auseinander, marktwirtschaftliche Strukturen haben sich aber noch nicht genügend ausgebildet, um das Vakuum zu füllen. Das geistige Verharren in alten Strukturen merke man vor allem den Studenten in den Provinzuniversitäten an, sagt Professor Gudkow. Die Bibliotheken hier sind schlecht ausgestattet, die Professoren alt. Die Jugendlichen haben hohe Ansprüche, können sie aber nicht realisieren und sind deshalb frustriert.

Als die heute 33-jährige Swetlana Ossipowa ihr erstes Kind zur Welt brachte, studierte sie in Tula. Heute wohnt sie mit mittlerweile zwei Kindern und einem Mann, der Alkoholiker ist, wieder bei ihren Eltern. Der einfache Job in einer Fabrik wird nicht gut genug bezahlt, um sich eine Miet- oder Eigentumswohnung leisten zu können. Träume und Pläne hat sie kaum, alles wird wohl so weiterlaufen. Ihre Vorstellung von Glück wäre es, einmal im Jahr mit den Kindern in den Urlaub fahren zu können. Auch Politik interessiert sie nicht, eigentlich habe sie überhaupt nicht bemerkt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten etwas im Land verändert habe.

Man geht davon aus, dass nur zehn bis zwölf Prozent der Russen aktiv Veränderungen anstreben. Unter den Jugendlichen ist der Anteil nicht wesentlich höher: 15 Prozent sollen es hier sein, fast alle Bewohner von Großstädten, deren Eltern Akademiker sind. "In den Großstädten kommt das Potenzial der Reformwilligen zusammen, das später von der konservativen Peripherie unterdrückt wird", meint Lew Gudkow. Dieser Prozess laufe fortwährend ab, weshalb die Modernisierung des Landes dauerhaft unterbrochen sei. Die gleichen Entwicklungen lassen sich auch in den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks feststellen, wo Soziologen ebenfalls vom Homo sovieticus sprechen. Doch in Polen, Tschechien oder Ungarn gab es starke Gegenbewegungen wie den Antisowjetismus. Dabei handelt es sich um antirussische Bewegungen, die den Übergang zur pluralistischen Gesellschaft erleichtert haben. Hier hat die Zeit der Diktatur nicht so lange gedauert wie in der Sowjetunion, deshalb blieben die bürgerrechtlichen Traditionen erhalten.

"Die Gesellschaften in diesen Ländern waren solidarischer, so überwand man die Phase des wirtschaftlichen Abschwungs. Die Transformation bringt immer Rezession mit sich, und Wachstum beginnt erst, wenn sich neue Institutionen gebildet haben", sagt Gudkow. Die Struktur der Macht in Russland sei aber fast die gleiche geblieben, bei allen äußerlichen Veränderungen. Wie zu Hochzeiten des Kommunismus wird die Macht nicht durch die Gesellschaft kontrolliert. Abhängige Behörden stützen den Apparat und schützen so wiederum die eigene Macht. Die Gesellschaftsordnung ist bestimmt von abhängigen Gerichten, einer politisierten Polizei und der Medienzensur.

"Die Wissenschaftler wissen noch nicht, ob ein kompletter Ausbruch aus einem totalitären System wie der Sowjetunion überhaupt möglich ist", sagt Gudkow. Totalitäre Regime wie der Nationalsozialismus in Deutschland oder der Faschismus in Italien sind erst durch einen Krieg zusammengebrochen. Juri Lewada sagte einmal: "Zu Sowjetzeiten dachte ich, wir werden 300 Jahre brauchen, um aus dem Totalitarismus herauszukommen. Mit dem Beginn der Perestroika dachte ich, wir werden es in 75 Jahren schaffen. Aber mit dem Beginn der Putin-Ära sehe ich, dass es mindestens 150 Jahre dauern wird."