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Bürgerarbeit: Handwerkliche Fehler mit System

Thorsten Stegemann 04.07.2011

Das vor einem Jahr gestartete Modellprojekt "Bürgerarbeit" gilt als staatlich geförderter Flop, entspricht aber wohl der politischen Absicht

"Aktiv zu sein ist immer besser als zuhause auf ein Jobangebot zu warten", meinte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen im Juli 2010 und stellte postwendend ein neues Modellprojekt vor. Drei Jahre lang fließen 1,3 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt und Mitteln des Europäischen Sozialfonds in die sogenannte "Bürgerarbeit", um Langzeitarbeitslose wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. An der Aktion sollten sich 197 Jobcenter beteiligen, um 34.000 sozialversicherungspflichtige Bürgerarbeitsplätze auf den Weg zu bringen. Im April 2011 waren es, wie die Opposition schnell herausfand, allerdings erst 3.000.

Mancherorts nimmt das Desinteresse an von der Leyens Initiative erstaunlichste Ausmaße an. So sind für Schleswig-Holstein 813 Bürgerarbeitsstellen vorgesehen. Im März vermeldete die Landesregierung ganze 33 Bewilligungen durch das Bundesverwaltungsamt – "davon 31 in Kiel und 2 in Ostholstein". Tief im Westen bekam Duisburg 150 Förderungen genehmigt, konnte aber nur 27 Plätze besetzen. Thüringen sollte 3.000 Bürgerarbeitsplätze schaffen, zählte am 20. Juni aber lediglich 238.

Die Zahl der Bewilligungen liegt mittlerweile deutlich höher. Nach Angaben des Bundesverwaltungsamts wurden bis zum 15. Juni insgesamt 11.578 Förderungen genehmigt. Wie viele Stellen tatsächlich angetreten werden, wird sich jedoch erst später herausstellen. Ob die Bürgerarbeiter im Anschluss tatsächlich ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis finden, zeigt sich in vielen Fällen wohl erst ab 2014.

Ideen und Erfolge

Bürgerarbeit – das klingt einfach besser als "1-Euro-Job", und hinter der Idee verbirgt sich auch ein anderer Ansatz. Das Projekt beginnt mit einer sechsmonatigen Aktivierungsphase, während der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vermittelt werden sollen.

Erst wenn dieser Versuch fehlschlägt, beginnt die dreijährige Beschäftigungsphase für die aussichtsreichsten Kandidaten. Drei Jahre lang sollen die Bürgerarbeiter dann eine 30-Stundenwoche absolvieren und mindestens 900 Euro brutto im Monat verdienen. Von diesem Betrag, der auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird, müssen Sozialversicherungsabgaben und Steuern gezahlt werden. Die Pläne des Bundesministeriums sehen vor, dass die Tätigkeiten gemeinnützig sind und keine regulären Jobs verdrängen

Zum Beispiel Begleitservice für Ältere/Behinderte etwa bei Behördengängen/Arztbesuchen; Energiesparberatung für Bedürftige; Unterstützung von Übungsleitern/Platzwarten im Breitensport; Kochen und Essensausgabe bei Mittagstischen für Bedürftige; Anlage/Pflege von Naturlehrpfaden, etc.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Juli 2010

Die Bundesagentur für Arbeit unterstützt die Bürgerarbeit mit dem Verweis auf Modellprojekte, die 2006 in Sachsen-Anhalt und 2007 im thüringischen Schmölln gestartet wurden.

Neben den in Zahlen zu messenden Ergebnissen haben besonders der Zugewinn an Motivation und Selbstwertgefühl für die ehemals langzeitarbeitslosen Personen und die Verringerung der Folgekosten von Arbeitslosigkeit zum Erfolg des Projektes beigetragen.

Bundesagentur für Arbeit, Juli 2010

Beobachteter werteten den Umstand, dass in Sachsen-Anhalt nur jeder zehnte Bürgerarbeiter wieder Anschluss an den ersten Arbeitsmarkt fand, freilich schon vor einem Jahr als "bescheidene Quote".

Lange Verfahren, Streit um Bezahlung

Die Bürgerarbeit droht nun endgültig zum staatlich geförderten Flop zu werden. Dafür sind zum einen die komplizierten und oft langwierigen Genehmigungsverfahren verantwortlich, die über das Bundesverwaltungsamt abgewickelt werden. Uneinigkeit scheint schon darüber zu herrschen, welche Aufgabenbereiche unter welchen Umständen förderungswürdig sind. Bis dato hat das Bundesverwaltungsamt über 800 Anträge abgelehnt.

Das Hauptproblem liegt allerdings im finanziellen Bereich. Kommunen, die Bürgerarbeiter beschäftigen wollen, müssten den von Bundesregierung und EU zur Verfügung gestellten Betrag um geschätzte 200 bis 300 Euro aufstocken, wenn die Beschäftigungsverhältnisse an die Tarife im öffentlichen Dienst gebunden werden sollen.

Müssen sie ja gar nicht, denkt die Bundesregierung. Müssen sie sehr wohl, meinen die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften machen alles kaputt, sagen Spitzenpolitiker in den Kommunen.

Die unklare Rechtslage, die im Idealfall vor Inkrafttreten einer solchen Maßnahme geklärt worden wäre, fiel sogar dem zuständigen Bundesministerium auf, das sich eine nicht ganz unerwartete Lösung einfallen ließ. Nachzulesen in den Fragen und Antworten zur Durchführung von Modellprojekten.

Im Modellprojekt "Bürgerarbeit" ist die Arbeitnehmerüberlassung ab sofort zulässig. Arbeitgeber, deren Förderanträge vom Bundesverwaltungsamt wegen Arbeitnehmerüberlassung abgelehnt wurden, werden gebeten, ihre Anträge dort erneut zu stellen bzw. zu aktualisieren.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales, April 2011

Damit werde die Schaffung von Arbeitsplätzen bei Beschäftigungsgesellschaften erleichtert, "die im Auftrag oder in Kooperation mit den Kommunen zusätzliche oder im öffentlichen Interesse liegende Arbeiten erledigen", so der CDU-Bundestagsabgeordnete Volkmar Vogel.

Leih-Bürgerarbeiter in der Stadtverwaltung

In Freiburg arbeiteten findige Kommunalpolitiker monatelang an der praktischen Umsetzung. Ein Planspiel sah vor, die Bürgerarbeiter vorwiegend in der Stadtverwaltung einzusetzen. Beschäftigungsträger sollte allerdings nicht die vom grünen Oberbürgermeister Dieter Salomon regierte Stadt selbst, sondern ein "Verein für kommunale Arbeits- und Beschäftigungsmaßnahmen" werden.

Da dieser Verein nicht tarifgebunden sei, bestände die Möglichkeit mehr Bürgerarbeitsplätze einzurichten, "als dies bei einer Bezahlung nach TVöD (Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes) der Fall wäre", rechnete das Sozial- und Jugendamt vor. Auf diese Weise könne "ein höherer Anteil an den für Freiburg grundsätzlich zur Verfügung stehenden Fördermitteln abgeschöpft werden". In "Drucksache G-11/019" setzten die Befürworter dieses Konstrukts überdies auf eigentümliche beschäftigungspolitische Impulse.

Auch beschäftigungspolitisch erscheint es sinnvoller, im Rahmen der Bürgerarbeit mit einer Beschäftigung zu beginnen, die außerhalb eines tariflichen Gefüges wie dem des TVöD liegt, da so Anreizsysteme für die jeweils Betroffenen geschaffen werden können, bereits während der Bürgerarbeit in "echte", reguläre Arbeitsstellen und den dort bestehenden Tariflöhnen zu wechseln und sich damit dauerhaft auf dem ersten Arbeitsmarkt zu etablieren.

Beschlussvorlage "Beteiligung der Stadt Freiburg am Modellprogramm Bürgerarbeit", Februar 2011

Nach heftiger Kritik sollen die Bürgerarbeiter nun einen Monatslohn erhalten, welcher der untersten Gehaltsstufe des TVöD entspricht. Aber eben nur entspricht, denn ausgeliehen werden sie trotzdem. Auf Gewerkschaftsseite befürchtet man deshalb wohl nicht zu Unrecht die Schaffung von Präzedenzfällen, die Privatisierungen und Billiglöhne noch stärker im öffentlichen Sektor verankern könnten.

Öffentlich geförderte Beschäftigung zu Leiharbeitskonditionen zu schaffen, steht im absoluten Widerspruch zum Grundgedanken der Bürgerarbeit. Bürgerarbeit wird so zum Einfallstor für unsichere Beschäftigung. Öffentliche Arbeitgeber betreiben damit aktiv Lohndumping, um Tarifverträge zu unterlaufen.

Hartmut Tölle, DGB-Landesvorsitzender in Niedersachsen

Bürgerarbeit, Workfare …

1996/97 wurde das Thema Bürgerarbeit unter ganz anderen Umständen und mit abweichenden Zielsetzungen diskutiert. Die Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission suchte seinerzeit nach einer Strategie der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerung, die vor allem dem Umstand Rechnung tragen sollte, dass sich aus der vermuteten "Bedeutungsminderung von Erwerbsarbeit in den wissens- und kapitalintensiven Bereichen der Volkswirtschaft" grundlegende Veränderungen ergeben könnten.

In der Kennzeichnung von Bürgerarbeit als freiwilligem sozialem Engagement liegt eine begriffliche Vorentscheidung, (…). Bürgerarbeit ist in diesem Sinne nicht nur zu unterscheiden von Erwerbsarbeit und Sozialarbeitszwang, sondern auch von Arbeiten im Haushalt und in Familien, Freizeitaktivitäten, Schwarzarbeit u.a.m. Bürgerarbeit dient nicht primär einem ökonomischen oder subsistenzwirtschaftlichen Zweck wie Haushaltsproduktion oder Schattenwirtschaft, sie ist verwandt dem politischen Handeln, produziert Kollektivgüter, dient dem "Gemeinwohl", anders als etwa individuelle Freizeitaktivitäten.

Auch diese begriffliche Eingrenzung eröffnet noch ein weites Feld, das sowohl Selbsthilfe und mitgliedschaftliches Engagement wie ehrenamtliche Tätigkeiten (in Vereinen, Menschenrechtsorganisationen oder in der Beratung und Führung von Wohlfahrtsverbänden) umfaßt und nach Organisationsformen (formell - informell, groß - klein etc.), Sektoren (Soziales, Gesundheit, Notfalldienste, Umwelt, Bildungswesen etc.) sowie Motivationsarten (traditionsgeleitet, individualistisch etc.) unterschieden werden kann.

Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission, November 1997

Zehn Jahre später positionierte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung die Bürgerarbeit bereits als Mischform aus Workfare und Sozialem Arbeitsmarkt.

… oder gar Zwangsarbeit?

Die Gewerkschaft ver.di spricht inzwischen von "billigen Arbeitssklaven", und für die Linke bedeutet das Pilotprojekt gar eine moderne Form der "Zwangsarbeit". Zwar kämen die Teilnehmer in der Endabrechnung auf einen Betrag, der rund 260 Euro über ihren ALG II-Bezügen liege, allerdings drohe ihnen im Fall der Ablehnung auch die Kürzung des Arbeitslosengeldes II.

Doch die Linken machen noch weitere Argumente geltend. Eine Auswahl des hessischen Landesverbandes:

Dass Bürgerarbeit keine regulären Jobs verdrängt, ist faktisch ausgeschlossen. Es gibt keine Arbeitsstellen, die "zusätzlich" sind. Es gibt höchstens Arbeitsstellen, die nicht regulär besetzt werden, weil man dafür nichts zahlen will. (…)

-Bürgerarbeiter/innen erwerben keine besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Durch das extreme Auswahlverfahren nach der Aktivierung, bekommen nur die Menschen, die ohnehin am leichtesten zu vermitteln gewesen wären, eine "Chance" auf Bürgerarbeit.

Die Linke, Hessen, Mai 2011

Nun liegt es an der Bundesregierung, namentlich an Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die vielen Kritiker eines Besseren zu belehren. Das kann nach Lage der Dinge nur funktionieren, wenn eine beträchtliche Zahl der ehemals langzeitarbeitslosen Bürgerarbeiter eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung findet.

Anders wird der Eindruck kaum entkräftet werden können, hier sei (noch) ein Instrument geschaffen worden, das sich neben der weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auch dazu eignet, die Einsatzfreude von Hartz-IV-Empfängern zu kontrollieren. Gut möglich also, dass die handwerklichen Fehler bei Einführung und Umsetzung gar keine waren.